Widersprüche in Ellen Whites Schriften? – Teil 2: "Die geschlossene Tür“

Mai 2016, advindicate.com, Kevin Paulson

Im ersten Teil dieser Serie haben wir einige grundlegende Fragen zur biblischen Lehre der Inspiration betrachtet, insbesondere was die Bibel über kanonische und nichtkanonische Propheten aussagt, wie Ellen Whites Schriften als kleineres Licht auf das größere Licht der Bibel hinweisen und welche Rolle sie in Lehrfragen und anderen geistlichen Diskussionen spielen.

In diesem Artikel möchten wir den wohl bedeutsamsten Widerspruch betrachten, der Ellen Whites prophetischem Dienst angelastet wird: die Lehre der „geschlossenen Tür“, wie sie in den Anfängen der Adventbewegung gelehrt und diskutiert wurde.

Ellen White und die „geschlossene Tür“

Revisionistische [die Geschichte umschreibende] Adventisten sowie viele nichtadventistische Kritiker unseres Glaubens behaupten seit einiger Zeit, Ellen White habe aufgrund ihrer ersten Visionen nach Beginn ihres prophetischen Dienstes im Dezember 1844 einige Jahre lang gelehrt, seit dem 22. Oktober 1844 sei die Gnadentür mit Ausnahme der treuen Adventgläubigen für die ganze Welt verschlossen. Es wird behauptet, Ellen White und ihre Mitarbeiter hätten diese Theorie rund sechs Jahre lang vertreten, bis Ellen White dann „praktischerweise“ ein Gesicht hatte, das den Irrtum berichtigte und die Adventbewegung auf weltweite Evangelisation und Mission ausrichtete. Dieser Vorwurf wird unter liberalen Adventisten und zahlreichen Gegnern unseres Glaubens zwar immer wieder gerne gehört und geglaubt, entspricht allerdings nicht den Fakten. Wir wollen sorgfältig betrachten, was Ellen White in der besagten Zeit tatsächlich gelehrt hat.

Bevor sie ihre erste Vision erhielt, glaubte Ellen White wie andere Milleriten eine Zeitlang, die Gnadentür habe sich am 22. Oktober 1844 für die Welt geschlossen. (Denken wir daran, dass sie vor ihrer ersten Vision keinen prophetischen Anspruch und daher auch keine größere geistliche Erkenntnis als ihre Mitgläubigen hatte.) Nachdem sie ihre erste Vision und damit auch die prophetische Gabe erhalten hatte, kamen weder aus ihrer Feder noch aus anderen Quellen Hinweise, dass sie diese Lehre vertreten hätte. Hier Ellen Whites rückblickende Erklärung aus dem Jahr 1884 zu ihrer ehemaligen Überzeugung:

Nach der großen Enttäuschung im Jahre 1844 glaubte ich eine Zeitlang genau wie die übrige Adventgemeinde, dass der Welt damals die Gnadentür für immer verschlossen worden wäre. Davon war ich überzeugt, bevor ich meine erste Vision erlebte. Wir verdanken also der Erkenntnis, die Gott geschenkt hat, dass unser Irrtum berichtigt wurde und wir sehen konnten, was in Wirklichkeit geschehen war. (Für die Gemeinde geschrieben, Bd. 1, S. 65)

Genau wie meine Glaubensbrüder und -schwestern glaubte ich 1844, nachdem die Zeit verstrichen war, dass kein Sünder mehr bekehrt würde. Aber ich hatte nie eine Vision, die besagte, kein Sünder würde mehr bekehrt werden. (S. 77)

Es bleibt den Anklägern wie in jedem Gerichtsverfahren überlassen, im Gegensatz dazu Aussagen von Ellen White aus jener Zeit zu finden, dass die Gnadentür nach 1844 tatsächlich für die ganze Welt verschlossen wurde. Kritiker führen zu diesem Zweck vor allem drei Zitate an: (1) Eine Aussage Ellen Whites über „die gottlose Welt, die von Gott verworfen worden war“; (2) ein Bericht aus zweiter Hand von einem Bekannten Ellen Whites; (3) ein Brief Ellen Whites an Joseph Bates, in dem sie über ihre Bemühungen schreibt, andere Adventisten von der Lehre der geschlossenen Tür zu überzeugen.

Zitat 1: Ihre erste Vision

Betrachten wir zunächst Ellen Whites Aussage über die von Gott verworfene, gottlose Welt. Sie lautet:

Es war für sie [die Menschen, die ihren Glauben an die Erweckung von 1844 verloren hatten] genauso unmöglich, wieder auf diesen Weg zurück und in die Stadt zu gelangen, wie für die gottlose Welt, die von Gott verworfen worden war. Sie stürzten einer nach dem anderen ab, überall am Wege. (Für die Gemeinde geschrieben, Bd. 1, S. 64f.)

Wir sollten fair genug sein, Ellen White sich selbst erklären zu lassen. In der folgenden Aussage verdeutlicht sie, was sie mit der „gottlosen Welt, die von Gott verworfen worden war“, meint:

Diese Menschen wurden mir in der Vision gezeigt: einerseits die, die das Licht, dem sie gefolgt waren, eine Täuschung nannten, und andererseits die Gottlosen dieser Welt, die das Licht von vornherein verwarfen und deshalb selbst von Gott verworfen wurden. Von den Menschen, die das Licht gar nicht gesehen hatten und sich deshalb auch nicht schuldig gemacht hatten, indem sie es ablehnten, ist dagegen überhaupt nicht die Rede. (S. 66)

Ein weiterer Beweis dafür, dass Ellen White nicht die ganze Welt außer der Adventbewegung als verloren betrachtete, finden wir in der Tatsache, dass sie in ihrer ersten Version – in der sie ja die Worte über die von Gott verworfene, gottlose Welt erwähnte – auch über die lebenden Heiligen bei der Wiederkunft Jesu sprach: „144 000 an der Zahl“. Den Berichten zufolge gab es im Jahr 1844 nur rund 50 000 bis 100 000 Gläubige, die auf Jesu Wiederkunft warteten, von denen ein Großteil die Adventhoffnung zur Zeit der ersten Vision Ellen Whites aufgegeben hatte. Ob die Zahl 144 000 buchstäblich oder symbolisch zu verstehen ist, spielt hier keine große Rolle; Fakt ist, dass es keine 144 000 Adventgläubige gab, als Ellen White die Anzahl der lebenden Heiligen bei der Wiederkunft Christi mit dieser Zahl angab. (Würde es sich um eine symbolische Zahl handeln, würde es übrigens kaum Sinn machen, den genauen Wert von 144 000 als Symbol für nur wenige Hundert oder Tausend Gläubige zu benutzen).

Wir können deutlich erkennen, wie das Licht aus Ellen Whites erster Vision den bis dahin gehaltenen Irrtum, die Gnadentür sei der Welt seit dem 22. Oktober 1844 verschlossen, berichtigte (wie sie es auch selbst tat; siehe Erfahrungen und Gesichte, S. 13).

Zitat 2: Aussage von Otis Nichols

Das zweite angeführte Beweisstück ist eine Aussage von Otis Nichols, einem Freund Ellen Whites: „Unser Werk für die bekenntliche Kirche und die Welt war getan; was noch blieb, war das Werk für den Haushalt des Glaubens.“ (Otis Nichols, zitiert in: Arthur L. White, Ellen G. White: The Early Years, 1827 – 1862, S. 76)

Dieser Bericht stammt natürlich aus zweiter Hand, er gibt die Meinung eines Zuhörers von Ellen White wieder. Wir sind uns bewusst, wie schnell es sogar unter Freunden Missverständnisse geben kann. Dieses Zitat kann nicht als Beleg dafür gelten, Ellen White habe gelehrt, die ganze Welt sei verloren, obwohl sie das selbst abstreitet und es auch keine schriftliche Aussage von ihr in diese Richtung gibt. Das sind simple Regeln der Beweisführung, die jedem Rechtsanwalt und Rechtspfleger verständlich sind. Der Krimiautor und ehemalige Polizist Joseph Wambaugh schrieb in seinem Bestseller über den berüchtigten Main­-Line-Mordfall in Pennsylvania, dass schriftliche Beweise weitaus gewichtiger sind als mündliche, da letztere dem Verständnis des Hörers unterliegen (Echoes in the Darkness, Taschenbuch, S. 315). Mit Ellen Whites Worten:

Glaubt nicht jedem unzuverlässigen Bericht, was Schwester White getan, gesagt oder geschrieben hat. Wenn ihr wissen wollt, was der Herr durch sie offenbart hat, dann lest ihre veröffentlichten Werke. (Testimonies for the Church, Bd. 5, S. 727)

Zitat 3: Brief an Joseph Bates

Der dritte Beleg dafür, dass Ellen White angeblich eine Zeitlang behauptet hat, die ganze Welt sei verloren, ist ein Brief, den sie am 13. Juli 1847 an Joseph Bates schrieb und wo sie über ihren Besuch bei einigen Gläubigen berichtet, die sie von Lehre der geschlossenen Tür überzeugen konnte. Nachfolgend der Wortlaut des Briefes:

Die Vision über das Kommen des Bräutigams, die ich Mitte Februar 1845 hatte.

Während des Treffens mit Israel Dammon, James und weiteren Geschwistern in Exeter (Maine) glaubten viele nicht an eine geschlossene Tür. Zu Anfang des Treffens war ich sehr bedrückt. Überall schien Unglaube vorzuherrschen.

Eine Schwester hatte den Ruf, sehr geistlich zu sein. Seit rund zwanzig Jahren reiste sie umher und predigte mit Vollmacht. Sie war wirklich eine Mutter in Israel. Doch die Gruppe war gespaltener Meinung über die geschlossene Tür. Sie hatte großes Mitgefühl und konnte nicht glauben, dass die Tür verschlossen sei. (Ich hatte bisher nichts von dieser Uneinigkeit gewusst.) Schwester Durben stand auf und sprach zu uns. Ich war überaus traurig.

Ich war innerlich tief betrübt, und während sie sprach, fiel ich vom Stuhl zu Boden. Dann hatte ich eine Vision, wie Jesus sich von seinem Mittlerthron erhob und sich in das Allerheiligste begab, um als Bräutigam sein Reich zu empfangen. Alle zeigten tiefes Interesse an diesem Gesicht und sagten, es sei ihnen völlig neu. Der Herr wirkte mächtig, um die Wahrheit ihren Herzen einzupflanzen.

Schwester Durben erkannte die Macht des Herrn, denn sie hatte sie schon oft verspürt. Kurz nachdem ich gefallen war, fiel auch sie zu Boden und flehte Gott an, ihr gnädig zu sein. Als ich aus der Vision kam, wurden meine Ohren mit dem Gesang und lauten Lobpreis Schwester Durbens begrüßt.

Die meisten Geschwister nahmen die Vision an und kamen zu einem klaren Verständnis der geschlossenen Tür. (Manuscript Releases, Bd. 5, S. 97f.).

Ellen Whites Kritiker erkennen bei ihrer Betrachtung dieses Briefes nicht, dass der Begriff „geschlossene Tür“ bei den ersten Adventgläubigen verschiedene Dinge bezeichnete. Die erste und extremste Bedeutung war, dass am 22. Oktober 1844 die Gnadentür für die ganze Welt verschlossen worden war. Ellen White erklärt, dass auch sie daran glaubte, bevor sie ihre erste Vision erhielt. Auch viele andere Adventisten hielten noch mehrere Jahre an dieser Überzeugung fest. Doch der Leser kann deutlich erkennen, dass der Brief oben nichts dergleichen sagt.

Die zweite Definition des Begriffes „geschlossene Tür“ bezieht sich auf diejenigen, die das Licht von 1844 abgelehnt hatten. Sie wurden ausgeschlossen und waren damit nicht in der Lage, größeres Licht zu empfangen. Die dritte Definition bezieht sich auf diejenigen, die Christus nicht vom Heiligen in das Allerheiligste des himmlischen Heiligtums gefolgt waren und ausgeschlossen wurden, weil auch sie eine biblische Wahrheit verworfen hatten und daher keine weiteren Wahrheiten erhalten konnten.

Die erste Definition der geschlossenen Tür wurde von Ellen White nach ihrer ersten Vision verworfen, weil, wie wir bereits gesehen haben, diese Vision mindestens 144.000 lebende Heilige nennt – viele Tausend mehr als die damaligen bekennenden Adventisten. Die zweite und dritte Definition der geschlossenen Tür wurde von Ellen White bis zu ihrem Tod vertreten und wird auch heute noch von Siebenten-Tags-Adventisten gelehrt, die die biblische Lehre ernstnehmen, dass Gott letztendlich die verwirft, die seine Wahrheit beharrlich ablehnen (Hos 4,6; Joh 9,41; Heb 6,4-6).

Was den angeführten Brief an Bates betrifft, sehen wir, dass er nichts davon sagt, dass die ganze Welt von der Barmherzigkeit Gottes ausgeschlossen sei. Der einzige Satz speziell über die Lehre der geschlossenen Tür beschreibt, dass Jesus von seinem Mittlerthron steigt und sich ins Allerheiligste begibt. Das bezieht sich auf die dritte Definition, wie oben erwähnt. Auch hier finden wir keinen Beweis dafür, dass Ellen White je auf Grundlage von Visionen gelehrt habe, Sünder könnten oder würden sich nach 1844 nicht mehr bekehren.

Kurz gesagt gibt es keinen schriftlichen Hinweis dafür, dass Ellen White unter Inspiration gelehrt habe, die ganze Welt außer den Adventisten sei nach dem 22. Oktober 1844 verloren. Die Behauptungen der Kritiker basieren auf Quellen aus zweiter Hand, sie lassen Ellen White sich nicht selbst erklären und stützen sich auf die nahezu weltweite, unbiblische Lehre, nach Golgatha könne es keine heilsrelevanten Ereignisse mehr geben, womit die Geschehnisse des Jahres 1844 jegliche Bedeutung in Bezug auf die Erlösung verlieren.

Für ein vertieftes Studium empfehlen wir dem Leser eine Betrachtung des Kapitels „The Shut and the Open Doors” im ersten Band der Biografie Ellen G. White: The Early Years, 1827 – 1862 von Arthur L. White, S. 256-70, sowie das Buch Messenger of the Lord von Herbert E. Douglass, S. 500 – 512 und 549 – 555.

Quelle

Mai 2016, advindicate.com, Kevin Paulson