Hatte Darwin doch nicht recht?
25. November 2016, Pro-Medienmagazin, Siegfried Scherer
Auf einer denkwürdigen Tagung der Britischen Königlichen Gesellschaft stritten 200 Evolutionsbiologen aus aller Welt: Ist der Neodarwinismus inzwischen überholt?
Die britische Royal Society ist eine altehrwürdige Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften im Vereinigten Königreich Großbritannien. Wer als Naturwissenschaftler Rang und Namen hat, geht hier ein und aus und was unter dem Dach der Royal Society öffentlich diskutiert wird, ist im Herzen des britischen Naturwissenschaftssystems angekommen.
Kürzlich versammelten sich etwa 200 Evolutionsbiologen aus aller Welt zu einem wissenschaftlichen Streitgespräch, das Geschichte schreiben könnte. Es ging um nichts weniger als die Frage, ob die neodarwinistische Theorie der Evolution ausreichend ist oder ob man nach neuen Antworten auf die Frage suchen muss, welche Mechanismen den Evolutionsprozess möglicherweise angetrieben haben.
Charles Darwin war einer der größten Biologen aller Zeiten, viele seiner Entdeckungen sind bis heute gültig. Er stellte die Hypothese auf, dass die vermutete Höherentwicklung der Lebewesen auf zwei Kernfaktoren reduziert werden könne: Variation und Selektion. Die Nachkommen eines Elternpaares sind nicht alle gleich (Variation). Diejenigen Nachkommen, welche besser an bestimmte Umweltbedingungen angepasst sind, werden im Durchschnitt mehr Nachkommen hervorbringen als die weniger gut angepassten, sie werden deshalb nach einiger Zeit zahlenmäßig dominieren und sich schließlich vollständig durchsetzen (Selektion). Dieses Wechselspiel zwischen Variation und Selektion wird seither als Darwin’sche Evolution bezeichnet.
Nun hat Darwin zwar Variation beobachtet, doch wusste er nicht, woher diese kam, denn Gene waren damals noch unbekannt. Als der Augustinermönch Gregor Mendel die Vererbungsgesetze entdeckte, später die mathematische Modellierung von Populationen entwickelt und noch später die DNS als Erbträgermolekül beschrieben wurde, ging der Darwinismus in der synthetischen Theorie der Evolution auf, die man auch oft als „Neodarwinismus“ bezeichnet.
Schwierigkeiten mit der Höherentwicklung
Die Kernhypothese des Neodarwinismus nimmt an, dass der Prozess der Höherentwicklung sich letztendlich auf die graduelle, also schrittweise Anhäufung von vielen, rein zufälligen Veränderungen im Erbmolekül DNS (Mutationen) und deren nachfolgende Selektion durch die Umwelt reduzieren lässt. Konrad Lorenz sprach von Mutation und Selektion als den „beiden großen Konstrukteuren der Evolution“ und personalisierte damit die Natur, was viele Evolutionsbiologen unwillkürlich tun, wenn sie etwa davon sprechen, dass die Natur wunderbare Konstruktionen erschaffe.
Der Neodarwinismus dominierte die Evolutionsbiologie über 60 Jahre lang und ist bis heute die in gymnasialen Biologielehrbüchern kaum hinterfragte Standardlehrmeinung. Zwar wurden von Fachleuten immer wieder Zweifel daran geäußert, ob der Neodarwinismus wirklich in der Lage sei, eine Höherentwicklung des Lebens zu erklären, doch dies wurde nicht beachtet, solange nur wenige Wissenschaftler substantielle Kritik an der herrschenden Theorie äußerten.
In den letzten Jahrzehnten wurde die Kritik am Neodarwinismus innerhalb der Evolutionsbiologie jedoch immer lauter. Schon vor Jahren begründeten einige Kritiker, warum der gradualistische Neodarwinismus Schwierigkeiten habe, eine Höherentwicklung (Makroevolution) zu erklären. Genau das meint der Paläontologe Robert L. Carroll schon vor 16 Jahren, wenn er scheibt: „Große evolutionäre Phänomene können nicht nur als Extrapolation von Prozessen auf der Ebene von Populationen und Arten verstanden werden.“ Neuerdings haben einige Kritiker als Ergänzung zum Neodarwinismus eine „Erweiterte Evolutionstheorie“ vorgeschlagen, welche die Probleme beheben sollen. Sie legen dabei großen Wert auf die Feststellung, dass Mutation und Selektion zwar wichtige Evolutionsprozesse seien, deren Bedeutung man keineswegs in Abrede stelle, doch seien sie nur ein Teil der Wahrheit.
Zu Evolution fähig geschaffen
Am 7. November 2016 war die Zeit dann reif: Die Royal Society organisierte den Streit zwischen den Lagern unter dem Thema „Neue Trends in der Evolutionsbiologie“ in Form einer drei Tage währenden wissenschaftlichen Tagung. Zu diesem Zweck waren sowohl führende Vertreter des „Neodarwinismus“ als auch führende Vertreter der „Erweiterten Evolutionstheorie“ eingeladen. Bei der Eröffnung der Tagung ermahnten die Organisatoren sowohl Referenten als auch Zuhörer mehrfach und eindringlich, ihre Emotionen im Zaum zu halten. Spontane Beifallskundgebungen der Hörerschaft für die eine oder andere Seite wurden ausdrücklich untersagt, doch das Verbot erwies sich als wenig wirksam – die Atmosphäre im Hörsaal war ungewöhnlich stark emotional aufgeladen.
Es ist hier nicht der Ort, auf die biologischen Details der Diskussion in London einzugehen. Zweifellos haben die Kritiker des Neodarwinismus eine große Zahl von faszinierenden neuen Erkenntnissen über Evolution zusammengetragen und es war eine wissenschaftliche Freude, die Vorträge zu verfolgen. Insbesondere stellt diese Schule nicht mehr die Gene, sondern den Organismus ins Zentrum ihrer Betrachtungen und nimmt damit Abschied von einer Gen-zentrierten, reduktionistischen Biologie. Das war höchste Zeit. Als Biologe sehe ich immer deutlicher, dass die Fähigkeit zur Evolution eine fundamentale Eigenschaft des ganzen Organismus ist, als Christ bin ich der Überzeugung, dass der Schöpfer das Leben mit genialen Mechanismen zur Evolution (Variation und/oder Anpassung) ausgestattet hat, die wir bestimmt noch nicht umfassend verstanden haben. Wo deren Grenzen liegen, ist umstritten.
„Kampf um den Kern der Evolutionstheorie“
Soweit ich sehe, liegt die eigentliche Auseinandersetzung jedoch an anderer Stelle: Die Kritiker meinen, dass der Neodarwinismus „dringend überdacht“ werden müsse, unter anderem um Höherentwicklung im Evolutionsprozess zu erklären. Die Neodarwinisten halten dagegen, dass die Kritiker eigentlich nichts grundsätzlich Neues vorzutragen hätten, mit der herrschenden Lehre sei „alles gut“. Liegt hier ein Grund für die Emotionalität der Diskussion in London? Es geht keineswegs nur um ein paar neue Evolutionsmechanismen, so interessant diese zweifellos sind. Die Vertreter der Erweiterten Evolutionstheorie sagen entsprechend:
Das ist kein Sturm im akademischen Wasserglas, es ist ein Kampf um den Kern der Evolutionsbiologie.
Die Kernfrage der kausalen Evolutionsbiologie lautet: Wie entstehen komplexe Strukturen und neuartige Formen in der Evolution? Zwei Erklärungsversuche liegen vor, an beiden werden jedoch begründete Zweifel vorgebracht. Stand in London die höchst brisante Frage unausgesprochen im Raum, ob am Ende beide Erklärungsversuche unzureichend sein könnten?
Ich gebe zu, dass es mich mit einer gewissen Befriedigung erfüllt, einige dieser kritischen wissenschaftlichen Anfragen an den Neodarwinismus zusammen mit mehreren Biologen schon vor über 30 Jahren in die Diskussion gebracht zu haben, auch wenn wir dafür vom neodarwinistischen Establishment viele „Prügel“ bezogen haben. Wenn ich andererseits die Argumente von den führenden Vertretern der „Erweiterten Evolutionstheorie“ abwäge, bin ich sowohl beeindruckt als auch skeptisch. Obgleich eine spannende neue Sichtweise auf Evolution wissenschaftlich begründet präsentiert wird, sehe ich bisher nicht, wie dadurch eine Höherentwicklung („Makroevolution“) verursacht werden könnte.
Probleme wurden tabuisiert
Damit befinden wir uns in einer bemerkenswerten Lage: Nach 60 Jahren der massiven Dominanz des Neodarwinismus, der nicht selten weltanschauliche Züge angenommen hat und über Jahrzehnte als letzte, nicht hinterfragbare Wahrheit in unseren Schulen gelehrt wurde, spricht heute sehr vieles dafür, dass dieser Erklärungsansatz der Evolutionsbiologie den Evolutionsprozess auf jeden Fall sehr unzureichend beschreibt. Soweit ich sehe, wird eine der zentralen Fragen nicht beantwortet: Woher kommen neuartige Konstruktionen in der Natur? Anders gefragt: Wie entsteht neuartige biologische Information?
Das ist nicht deshalb skandalös, weil man eine mit benennbaren wissenschaftlichen Problemen belastete Hypothese in Schulen und Universitäten lehrte, denn alle Wissenschaft ist vorläufig und keine Theorie kann alles erklären. Der Skandal liegt m.E. darin, dass die Probleme trotz besseren Wissens tabuisiert wurden und werden, und stattdessen eine vorläufige Hypothese auf dem Hintergrund eines in der Regel atheistischen Weltbildes als nicht hinterfragbare Tatsache gelehrt wird, wobei man sicher sagen kann, dass Kritik nicht direkt erwünscht ist. Das hat mit Naturwissenschaft nichts zu tun und behindert zudem wirkungsvoll eine in diesem Zusammenhang scheinbar ebenfalls unerwünschte Ausbildung von Schülern und Studierenden zum kritischen Denken.
Neben den Anhängern der beiden genannten Lager nahm auch eine Gruppe von etwa 15 Vertretern der sehr heterogenen Intelligent-Design-Bewegung (ID) aus den USA, aus England und Deutschland an der Konferenz teil. Deren Präsenz war aufgrund der Teilnehmerliste offensichtlich, denn einige sind unter Evolutionsbiologen bekannt „wie bunte Hunde“. Es war wenig überraschend, dass kein Neodarwinismus-Kritiker mit einem ID-Hintergrund als Referent vorgesehen war. Dabei lehnen viele ID-Vertreter eine historische Evolution keineswegs ab und der eine oder andere ausgewiesene Biologe unter uns hätte einen substantiellen wissenschaftlichen Beitrag zu der ungelösten Frage nach dem Ursprung biologischer Information leisten können.
Nun ist es fair zu sagen, dass sich auch die Vertreter der „Erweiterten Evolutionstheorie“ zu einer rein naturalistischen Sicht der Evolution bekennen. Mit diesem weltanschaulichen Bekenntnis, das ID-Vertreter offensichtlich nicht teilen, erfüllen sie ein Grundkriterium, um im akademischen Rahmen der Evolutionsbiologie eine offizielle Genehmigung zur Meinungsäußerung zu erhalten.
Alles, nur nicht Gott
Die latente weltanschauliche Spannung wurde in einer unerwarteten Wendung der Diskussion in London deutlich. Im Vortrag hatte Andy Gardener die Beobachtung thematisiert, daß die Lebewesen Merkmale von Design tragen. Obwohl er keinen Zweifel daran ließ, dass er den Glauben an einen Designer vehement ablehnt, kam es zu engagierten Wortmeldungen, in denen gefordert wurde, auf gar keinen Fall von einem Design des Lebens zu sprechen. Nachdem Gardener darauf beharrte, dass die Designmerkmale des Lebens unübersehbar seien und dass man mit dieser Tatsache umgehen müsse, rief eine Teilnehmerin laut und unüberhörbar emotional in den Saal hinein: „Aber nicht Gott! Nicht Gott!“
Auf gar keinen Fall Gott – alles, nur das nicht. Trotz tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten war man sich bei der Royal Society in diesem Punkt vermutlich ziemlich einig. Warum denn nur? Wie konnte es soweit kommen? Von 1703 bis 1727 stand Sir Isaac Newton der Royal Society als Präsident vor. Dieser Vater der Naturwissenschaft hat wie kein Naturwissenschaftler vor ihm begründet, warum es im Tiefsten vernünftig ist, von Gott als einem „intelligenten und mächtigen, wahrhaft seienden Wesen“ zu reden. Seine Argumente sind bis heute gültig.
Wohin haben sich die Erben Isaac Newtons nur verirrt, auf dessen Schultern die Britische Royal Society steht? Wann stellen sich Biologen wenigstens der offensichtlichen Einsicht, dass Leben nicht auf Materie reduzierbar ist, sondern unter der Voraussetzung des Geistigen verstanden werden muss? Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss man noch nicht einmal religiös sein, wie der weltberühmte atheistische Philosoph Thomas Nagel vor kurzem eindrücklich zeigte. Kommt noch einmal die Zeit, in der meine Kollegen den Gedanken wieder zu fassen wagen, dass die atemberaubenden, genialen Konstruktionen des Lebens, die sie in ihren kühnsten Träumen nicht erahnten, bevor sie sie staunend entdeckten, vom Schöpfer allen Seins ins Dasein gerufen wurden? (pro)
Prof. Dr. Siegfried Scherer ist Ordinarius am Department für Grundlagen der Biowissenschaften der Technischen Universität München und forscht über Ökologie und Evolution von Krankheitserregern (www.mikbio.de). Die TU München unterstützt die in diesem Beitrag wiedergegebene Meinung des Autors nicht. Weitere Informationen unter www.siegfriedscherer.de
Quellen:
- Carroll, R. L. (2000) Towards a new evolutionary synthesis. Trends Ecol Evol 15,27-32
- Laland, K. et al. (2015) The extended synthesis: Its structure, assumptions and predictions. Proc. R Soc B 282: 20151019
- Laland, K. et al (2014) Does evolutionary theory need a rethink? Yes, urgently. Nature 514, 161-164
- Wray, G. A. et al. (2014) Does evolutionary theory need a rethink? No, all is well. Nature 514, 161-164
- Junker, R./Scherer, S (Hrsg) Evolution – ein kritisches Lehrbuch. neueste 7. Auflage von 2013, Weyel-Verlag
- Newton, I. (2016) Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie (Philosophiae naturalis principia mathematica). 4. Auflage, übersetzt und herausgegeben von Ed Dellian. Academia Verlag, Bonn
- Axe, D. (2016) Undeniable. How biology confirms our intuition that life is designed. Harper One.
- Nagel, T. (2013) Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp