Impfen aus Nächstenliebe?
„Die Grünen-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hat sich nun für mehr Freiheiten für Geimpfte und Genesene im Vergleich zu Ungeimpften ausgesprochen, um den Impfanreiz zu erhöhen. Wenn jemand nicht solidarisch mit etwa Kindern oder chronisch Kranken sei, ‚dann kann er oder sie nicht erwarten, dass alle anderen auf ihre Freiheit verzichten‘, sagte Baerbock den Zeitungen der Funke Mediengruppe“.
Was inzwischen den meisten Lesern solcher Worte wohl kaum noch auffällt, ist die selbstverständliche implizite Gleichsetzung von Impfen mit Solidarität. Solche Formulierungen hören und lesen wir seit Monaten fast täglich.
Gerade in kirchlichen Kreisen wird das Wort „Solidarität“ auch gerne durch „Nächstenliebe“ ersetzt und die Kirchenleitung der STA Deutschland kombiniert in der Stellungnahme zur Impfung gegen Covid-19 vom 04.01.2021gar beide Begriffe:
„So gesehen besitzt das Impfen auch eine solidarische Komponente und Geste der Nächstenliebe“.
Was aber bedeuten diese Begriffe und ist ihr Gebrauch in dieser Form angebracht?
Die allein gültige Definition für „Nächstenliebe“ müssen wir wohl bei dem Urheber derselben erfragen, also der Bibel entnehmen. Dort greift Jesus in Lk.10.27 auf die Frage des reichen jungen Mannes „Was muss ich tun um gerettet zu werden?“ die Worte aus 3. Mose 19,18 auf, mit denen er die zuvor genannten Gebote zusammenfasst:
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.
Und Paulus wiederholt diese Formulierung:
„Denn die [Gebote]: ‚Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen, du sollst nicht begehren‘ – und welches andere Gebot es noch gibt –, werden zusammengefasst in diesem Wort, nämlich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘“ (Römer 13,9).
Weil diese Aufforderung im Alltag und so auch in den obigen Zitaten ihre Satzform zugunsten des einzelnen Wortes Nächstenliebe eingebüßt hat, können zuweilen Schwierigkeiten beim Verständnis entstehen.
Denn das bloße Schlagwort Nächstenliebe ist doch deutlich unkonkreter als der volle Satz, wie die Bibel ihn formuliert, indem sie die Art der Liebe, die dem Nächsten entgegengebracht werden soll, durch den zweiten Halbsatz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ explizit konkretisiert.
In diesem vollen Satz wird ausgedrückt, was Jesus auch an anderer Stelle (Matthäus 7,12) ebenfalls als eine Art Zusammenfassung der Gebote, formuliert:
„Alles nun, was ihr wollt, dass die Leute euch tun sollen, das tut auch ihr ihnen ebenso; denn dies ist das Gesetz und die Propheten“
Die Formulierung „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ fordert ein Handeln am Nächsten, das der Mensch auch sich selbst zukommen lassen würde. Und diese Aufforderung ist weitestgehend gleichbedeutend mit dem, was Jesus hier sagt, nämlich an den Menschen so zu handeln, wie man selber wünscht, (von ihnen) behandelt zu werden.
Was bedeutet das nun für die Impfung?
Diejenigen, die glauben, dass die Impfung ihnen oder anderen hilft, ohne zu schaden, lassen sich impfen. Sie tun das mit gutem Gewissen und erwarten u. U. mit ebenso gutem Gewissen, dass auch andere ihnen bzw. der Herdenimmunität zuliebe die Impfung annehmen. Wer aber nicht von Nutzen und Unschädlichkeit der Impfung überzeugt ist, lässt sich nicht impfen und wird auch kaum von einem anderen erwarten, sich für das Allgemeinwohl die Injektion geben zu lassen.
Der Begriff Nächstenliebe ist ebenso wie das Wort Solidarität zwingend abhängig vom mindset des Handelnden. Beide Begriffe brauchen einen Referenzpunkt, ein Wertesystem, in das sie eingebunden werden. Welche Handlung aus Nächstenliebe geschieht oder aus Gleichgültigkeit oder Egoismus, hängt dann nicht in erster Linie von der Handlung ab, sondern von der Einstellung, mit der die Handlung ausgeführt wird. Die Einstellung wiederum hängt von der Einschätzung dessen ab, was getan wird: Hält man eine Handlung für hilfreich oder schädlich? Wünscht man sie sich für sich selbst oder nicht?
Diejenigen aber, die eine Handlung fordern und sie mit dem Etikett der Nächstenliebe oder Solidarität versehen, übergehen die geistige Haltung und proklamieren damit die Unhinterfragbarkeit ihrer eigenen Werteinschätzung.
Diese Vorgehensweise aber steht nur Gott allein zu. In seinem Wort ist die Nächstenliebe mit den Geboten verknüpft. Und hier fordert Gott vom Menschen tatsächlich eine Einsicht in deren unumstößliche Richtigkeit, die dann das Handeln bestimmt. Eine Neuverknüpfung des Begriffes Nächstenliebe mit einer anderen als in der Bibel genannten konkreten Handlung ist nicht redlich, erhebt sie diese Handlung, hier also die Impfung, doch in den Stand eines biblischen Gebotes, dessen moralische Integrität über jeden Zweifel erhaben ist und nicht mehr diskutiert werden braucht. So kann Druck auf Menschen ausgeübt werden.
Wer vom Nutzen der Impfung für sich oder andere nicht hinreichend überzeugt ist, kann sich unmöglich aus Nächstenliebe impfen lassen. Er kann wohl dem Druck nachgeben und die gewünschte Handlung vollziehen, aber Nächstenliebe wird nicht seine Handlungsintention sein. Und er wird auch nicht von anderen erwarten, dass sie sich für seine Gesundheit impfen lassen. Und hierbei ist es zunächst völlig unerheblich, ob die Impfung nun tatsächlich schadet oder nützt, entscheidend ist, was das Individuum in dieser Frage für wahr hält.
Um aufrichtig aus Nächstenliebe geimpft zu werden, muss der Mensch von ganzem Herzen von Nutzen und Erforderlichkeit der Impfung für sich und andere überzeugt sein.
Ähnliches gilt für den weltlicheren Begriff der Solidarität, der aber in den genannten Kontexten denselben Zweck erfüllt: Womit oder mit wem sich ein Mensch solidarisiert, ist von seiner Einstellung abhängig. Solidarität ohne Wertekontext ist ähnlich wie der Begriff Nächstenliebe nichtssagend. Anders formuliert: Solidarität hat isoliert betrachtet keinen Eigenwert. Erst wenn die Fragen „womit?“ und „warum?“ beantwortet sind, kann beurteilt werden, ob die in Frage stehende Solidarität befürwortet oder abgelehnt wird.
Auch jenen nämlich, die dieser Tage gegen die Coronapolitik demonstrieren gehen, kann durchaus Solidarität mit dem Rest der Bevölkerung unterstellt werden. Denn die Demonstranten sind von ihrem Anliegen überzeugt und möchten sich und andere vor den von ihnen als überwiegend schlecht bewerteten Regierungsmaßnahmen schützen. Ebenso, wie manche Impfbefürworter von der (kollektiven) Wirksamkeit der Impfung gegen ein gefährliches Virus überzeugt sind und sich und andere durch eine Impfung schützen möchten.
In beiden Fällen handeln Menschen gemäß ihrer Überzeugung solidarisch, und zwar auch mit den Menschen, die nicht ihrer Meinung sind.
Beide Parteien aber, die Befürworter und die Skeptiker, werden es ablehnen, sich inhaltlich mit der Seite zu solidarisieren, deren Einschätzung der eigenen Sichtweise nach auf der Unwahrheit beruht. Und so hängt es auch hier von der inneren Einstellung ab: Gegen die eigene Überzeugung kann keine Solidarität mit dem (vermeintlichen) Irrtum bzw. der Unwahrheit und ihren Auswirkungen erzwungen werden. Handlungen können erzwungen werden, Einstellungen nicht. Und am Ende ist die Frage entscheidend: Was ist denn nun wahr – schadet die Impfung mehr als zu nutzen oder nützt sie mehr als zu schaden? Von der Einsicht in die Antwort hängt das Verhalten der Menschen ab.
Die Impfung mit den Etiketten Solidarität oder gar Nächstenliebe zu versehen, suggeriert analog zu Gottes Geboten Zweifelsfreiheit hinsichtlich der Beantwortung dieser Frage zu Gunsten der Impfung und gesteht den Menschen keine andere Meinung mehr zu.