Tugend und Wahrheit

Am 27.05.2021 fand die Grundsteinlegung eines gemeinsamen Bethauses von Juden, Christen und Moslems in Berlin-Mitte statt.

Geplant ist mit diesem „House of One“ „ein Sakralbau in neuartiger Architekturtypologie mit einer Synagoge, einer Kirche und einer Moschee unter einem Dach – verbunden über einen für alle offenen Begegnungsraum im Zentrum des Gebäudes“.

Auf der Website des House of One ist von der baulichen Vollendung eines „interreligiösen Friedensprojekts“ die Rede und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sprach Berichten zufolge bei der Grundsteinlegung von einem Ort der Toleranz und Offenheit.

Modell "House of One"

Die Wortwahl erinnert in diesem Kontext stark an Lessings Drama „Nathan der Weise“ und nicht zufällig war die Grundsteinlegung ursprünglich für 2020 geplant; „es wäre der Jahrestag der Uraufführung von Lessings Drama ‚Nathan der Weise‘, der im Jahre 1783 in Berlin erstmals gezeigt wurde. Das Werk ist ein Plädoyer für Humanismus und die friedliche Verständigung zwischen den Religionen und der Gesellschaft“, so ist auf der Homepage zu lesen. Offenbar sehen sich die Initiatoren in der Tradition des Erbes dieses Stückes: „In einem Zeitungstext stand vor einigen Jahren zu lesen: ‚Lessings Ringparabel wird Architektur‘. Eine schöne Parallele, über die ein Nachdenken lohnt“.

Was sagt das Drama nochmal aus’? Herz des Stückes, das immer noch für die Botschaft der Toleranz unter den drei Weltreligionen steht, ist die sog. Ringparabel. Mit dieser wird die Wahrhaftigkeit der Religion zu Gunsten der Tugendhaftigkeit ihrer Anhänger beiseitegeschoben: Der Ring, der die wahre Religion versinnbildlicht, enthält einen Stein. Dieser „hatte die geheime Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen, wer / In dieser Zuversicht ihn trug“ und wurde über Generationen vom Vater an den Sohn weitergegeben, bis schließlich ein Vater zwei optisch identische Nachbauten anfertigen ließ und somit jedem seiner drei Söhne jeweils einen Ring gab, zusammen mit der Versicherung, es handele sich um den echten Ring.

Nach dem Tod des Vaters entbrennt nun ein Streit zwischen den Brüdern, jeder bezichtigt die beiden anderen des Betrugs. Schlussendlich wird ein Richter aufgesucht, um Antwort auf die Frage zu erhalten, welcher Ring der echte sei. Der Richter jedoch vermag die Ringe nicht zu unterscheiden. So lautet am Ende sein Richterspruch:

„Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, / Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, / Mit innigster Ergebenheit in Gott, / Zu Hülf’ !“.

Die metaphorische Bedeutung liegt auf der Hand: Die eine wahre Religion ist nicht erweislich. Strebt nur eifrig nach guten Taten und legitimiert auf diese Weise den Wahrhaftigkeitsanspruch eurer Religion. Nur streitet nicht länger um ‚die Wahrheit‘. Tatsächlich ersetzt das Drama die Erkenntnis der Wahrheit mit dem Streben nach Tugendhaftigkeit als Mittel zur interreligiösen Friedensstiftung.

Lessing schrieb den Nathan bis 1779. Seither ist viel Zeit vergangen, doch seine Botschaft ist ungebrochen aktuell. Und gerade vor dem Hintergrund der aktuell wieder entbrennenden Auseinandersetzungen im Nahen Osten scheint diese Botschaft der Toleranz auf Basis von Tugendhaftigkeit statt Wahrheit verführerisch.

Und auch, wenn in der Charta des House of One explizit festgehalten wird, dass „Unterschiede und theologische Gegensätze nicht überspielt, sondern ausgehalten werden“ müssen, liegt doch der Schwerpunkt der Charta und des Projektes eher auf der Betonung der Gemeinsamkeiten:

So fungiert der „gemeinsame Bestand von Grundwerten, die ,mit Herz und Tat‘ gelebt werden wollen“ als Basis für „übereinstimmende grundsätzliche Handlungsintentionen, die für die Unterzeichner […] maßgebend sind“.

Der letzte dieser sodann aufgeführten Grundwerte ist die „Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung“ und hier heißt es:

„Es ist nicht die Absicht einer Religionsgemeinschaft, die Errichtung und Nutzung des neuen Bet- und Lehrhauses mit dem Ziel eines missionarischen Handelns in Hinsicht auf die anderen Religionsgemeinschaften zu verbinden“.

Hier wird der Verzicht auf Mission nicht nur in Kauf genommen, sondern als besondere Tugend der Gleichberechtigung gewertet und als solche ausdrücklich als ein gemeinsamer Grundwert aller drei Religionen hervorgehoben.

Es steht dort also im Grunde nichts anderes als die Quintessenz der Ringparabel in Lessings Nathan der Weise und diese Quintessenz ist keine Erfindung der Initiatoren des House of One, sondern symptomatisch für den Umgang mit Religion in unserer Zeit: Streitet nicht um Theologie (also konkurrierende Wahrheitsansprüche), sondern konzentriert euch auf das Verbindende (also den gemeinsamen Anspruch der Ausübung von Tugendhaftigkeit). Wer hier noch auf – insbesondere religiöse – Wahrheitsansprüche hinweist, gilt schnell als Spalter, Unruhestifter, Querulant, Diskriminierer.

Was nun sagt die Bibel zu Wahrheit und Tugend?

Auf die Frage, wie es vom begeisterten Ruf „Hosianna!“(Joh.12.12) beim Einzug Jesus‘ in Jerusalem zum wütenden Ruf der Menge „Kreuzige ihn!“ kurz vor seiner Hinrichtung (Joh.19.15; Mk.15.13; Lk.23.21ff) kam, geben die Juden selbst eine Antwort:

Jesus fragt, nachdem die Juden Steine aufhoben, um ihn zu steinigen: „Viele gute Werke habe ich euch gezeigt von meinem Vater; um welches dieser Werke willen wollt ihr mich steinigen?“(Joh.10.32). Ihm wird geantwortet: „Nicht wegen eines guten Werkes wollen wir dich steinigen, sondern wegen Gotteslästerung, und zwar weil du, der du ein Mensch bist, dich selbst zu Gott machst“ (Joh.10.33). Diesen Vorwurf wiederholen sie gegenüber Pilatus kurz vor der Kreuzigung noch einmal (Joh.19.7).

Es war also schon zu Jesus‘ Zeiten nicht anders als heute: Wo Jesus mit dem Absolutheitsanspruch der Wahrheit auftrat, schlug ihm bald Ablehnung und Gewalt entgegen. Die Menschen hatten nie etwas gegen seine Tugenden und guten Werke. Solches haben sie von ihm gern angenommen. Allein wo er nicht von unliebsamen theologischen Aussagen ablassen wollte, wie eben jener, dass er der Sohn Gottes ist, kippte die Stimmung.

Gewalt oder Einschüchterung als Antwort auf das Aussprechen von Wahrheiten führten bei Jesus jedoch nicht zu einem dauerhaften und umfänglichen Verstummen zugunsten eines harmonischen Miteinanders und das sollte uns ein Vorbild sein: In Zeiten, in denen mehr und mehr auf Gemeinsamkeiten und Gleichheiten aller Weltanschauungen Wert gelegt wird, ist es nach wie vor von Bedeutung, auch auf relevante theologische Unterschiede hinzuweisen. Und das nicht mit dem Ziel, Menschen auszugrenzen oder abzuqualifizieren, sondern im Gegenteil, um Suchenden den Weg zur Quelle der Wahrheit zu weisen. Denn diese Suchenden gibt es, sollten es ihrer auch wenige sein. Natürlich gilt es in jeder Situation klug und umsichtig zu handeln, zu reden und mitunter auch zu schweigen, wie Jesus vor Herodes schwieg (Lk.23.9). Es gibt Situationen, in denen Schweigen angebracht ist und es ist nicht leicht, auf dem Grat zwischen angebrachtem Reden und gebotenem Schweigen zu wandeln. Allein die Gefahr des bequemen oder furchtsamen Schweigens ist dieser Tage häufig gegeben, weil der Zeitgeist, und dafür ist das hier erwähnte Projekt in Berlin nur ein Beispiel, das Zusammenrücken aller Weltanschauungen unter Vernachlässigung theologischer Fragestellungen geradezu verlangt.

Durchaus also mit Fein- und Taktgefühl, aber eben ungebrochen muss dort, wo es die Situation verlangt, immer wieder der Mut aufgebracht werden, sich von Gleichheitsansprüchen unter den Weltanschauungen den Mund nicht letztendlich und umfänglich verbieten zu lassen, sondern dem Vorbild Jesus‘ näherzukommen und erkennen zu lernen, wann wirklich Reden Silber und Schweigen Gold ist.

Denn schließlich, so hat es dem Focus zufolge auch der amtierende Berliner Bürgermeister Michael Müller bei der Grundsteinlegung formuliert, „habe jeder Jude in Berlin das Recht, den eigenen Glauben frei und sicher auszuüben. Gleiches gelte für Christen, Muslime und die Angehörigen aller anderen Glaubensgemeinschaften, so der Bürgermeister weiter“.

Möglicherweise ist es dem Berliner Bürgermeister nicht bewusst, aber: Für einen Nachfolger Jesus‘ umfasst nun das Ausleben des eigenen Glaubens mehr als gute Werke im Sinne allgemeinverbindlicher Grundwerte, denn wir haben auch den klaren Auftrag zu Mission und Lehre erhalten: „So geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker, und tauft sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe“ (Mt. 28.19,20).

Und wer, wenn nicht wir, kann die Suchenden zur Wahrheit leiten?


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